Mitschrift Gespräch Meta Lauterjung, Ursula Handelmann und Erika Leutgen
Solingen, 8.Mai 2009, 10.00 Uhr und 28.Mai, 10.00 Uhr, 8. Oktober, 10.30 Uhr
Max Michaelis, geboren am 10.07.1898 in Pielburg, Kreis Kollberg (Pommern). Gestorben vermutlich auf einem „Todesmarsch“ des KZ Buchenwald in Richtung Borna (Sachsen im April 1945).
Max Michaelis stammte aus einer Familie assimilierter Juden. Wohnort der Familie war Kollberg. Max Michaelis lernte den Beruf des Bäckers und Konditors. Später betrieb er in Berlin eine eigene Bäckerei.
Im 1.Weltkrieg ist Max Michaelis Soldat. Er ist als 17jähriger Freiwilliger im Baltikum stationiert und nimmt dort an Kämpfen teil. Er erhält eine Tapferkeitsmedallie und das Eiserne Kreuz.
Am 15. Juni 1921 heiratet Max Michaelis in Berlin seine Frau, Meta Weihs. Sie stammte eigentlich aus dem Kreis Allenstein in Ostpreußen und arbeitete aber in den 20iger Jahren als Frisöse in Berlin. Vermutlich lernten sich beide dort kennen. Noch nicht bestätigt: Es gab vermutlich Beziehungen zu einer Baptistengemeinde in Berlin (Neukölln?). Meta Michaelis, geborene Weihs ist Deutsche (Arierin). In ihrer Familie sind besonders ihre Brüder Nazis. Das Ehepaar führt eine Mischehe. Der NS Staat versucht, die Mutter zur Scheidung zu überreden, die sie jedoch verweigert. Das Paar führt amtlicherseits eine „privilegierte Mischehe“.
Die Mutter mütterlicherseits, Anna Weihs, ist Mitglied in GE Blumendelle, vermutlich zog die Familie z.Teil in der Weltwirtschaftskrise der 20iger Jahre ins Ruhrgebiet. Die Familie von Max und Meta zieht aus den gleichen Gründen ins Ruhrgebiet.
Die Tochter geht mit zur Gemeinde. Sie ist, zusammen mit ihrer Mutter, dort Mitglied der Blumendelle. Max Michaelis lernt so die Gemeinde kennen, da er mit zu den Gottesdiensten geht. 1923 zieht die Familie nach Bo-Wattenscheid um. Durch den Umzug nach Wattenscheid kommt die Familie auch räumlich näher zur Immanuelskirche in Bochum, auf der Hermannshöhe.
Max Michaelis arbeitet auf der Zeche Centrum in Wattenscheid. Die Familie lebt in Wattenscheid, Hammer Straße 2. In der Weltwirtschaftkrise der 20iger Jahre ist er sieben Jahre hintereinander arbeitslos und muss seine Familie so gut es geht, ernähren. Unter anderen unterstützt ihn dabei die Gärtnerei Strieder aus Wattenscheid (Mitglieder der Immanuelskirche Bochum). Die Familie Max Michaelis besteht aus: Der Ehefrau Meta, dem Sohn Herbert, geboren 1921, der durch ein Unglück 1925 oder 1926 ums Leben kommt. Dazu die Töchter: Ruth, geboren 1923 (die nur einen Tag lebt), Meta, geboren am 17.05.1923, Magdalene, geboren am 21.09.1927, Erika, geboren 20.10.1933 und Ursula, geboren am 03.02. 1944.
Max Michaelis wird in der Immanuelskirche auf der Hermannshöhe getauft – etwa 1927/19284. Vor seiner Taufe gibt es offenbar große Diskussionen in der Gemeinde. Ein Ältester aber hält große Stücke auf ihn: „Ein Israelit, an dem kein Fehl ist“, so wird ein Ausspruch überliefert, der die Entscheidung zur Taufe erst möglich gemacht hat. Einer seiner leiblichen Brüder wird ebenfalls Christ: Herbert Michaelis. Er wandert in die USA aus. Ein weiterer leiblicher Bruder, Alfred, wird in den 30iger Jahren in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Max Michaelis leitet zunächst eine Stubenversammlung in Wattenscheid, Hammer Straße 2. Das ist ca. 1928-1930. Diese Stubenversammlung wird sehr gut von der Bevölkerung angenommen, noch heute gibt es in Bochum Menschen, die sich an seine Art zu predigen, gerne erinnern. Max Michaelis führt auch Evangelisationen durch. Friedrich Sondheimer ist mit seinem „Missionswagen“ in Wattenscheid. Später baut er in Eigenregie einen Pferdestall zum Gemeindesaal um – hier trifft sich die Zweiggemeinde Wattenscheid. Später ist Max Michaelis, Hausmeister und Leiter der Zweiggemeinde in Wattenscheid, Bochumer Straße 36. Die Gemeinde kam auf ihn zu, um ihn nach den sieben Jahren Arbeitslosigkeit anzustellen. Die Familie wohnt zu diesem Zeitpunkt im Gemeindehaus. Die Töchter erinnern, etwa 1927 bis 1930 die Anstellung des Vaters in der Zweiggemeinde Wattenscheid. Max Michaelis ist missionarisch aktiv – verteilt viel und gerne den „Friedensboten“. Menschen werden von ihm auf der Straße angesprochen, ob sie Jesus lieben und kennen. Es kommen Menschen zum Glauben.
Aber 1935 wird Max Michaelis aus der Gemeindearbeit (Nürnberger Rassegesetze6) entlassen. Jedenfalls erfolgt wohl bereits 1933 eine Zurückstufung. Er darf nur noch Hausmeister sein. 1935, zum Zeitpunkt der Entlassung, muss er mit seiner Familie das Gemeindehaus in kurzer Zeit verlassen und steht mit seiner Familie mittellos auf der Straße. Dennoch redet Max Michaelis fast ehrfürchtig von der Gemeinde und wird nicht irre an ihr. Er betet für viele Menschen aus der Gemeinde. Sein Glaube bleibt ungebrochen.
Ab 1938 ist Max Michaelis KZ Insasse in Bergkamen. Er baut am Autobahnkreuz A1/A2 mit und ist auch bei der Firma Fromm in Bochum zur Zwangsarbeit eingeteilt. Er kann von Bergkamen aber immer noch nach Hause. Vermutlich fällt er unter eine Verordnung zur „Zwangsarbeit“ von „privilegierten Mischehen.
In der Zeit zwischen 1936 und 1938 muss es in der Zweiggemeinde Bärendorf, in deren Räumen auch die Familien Michaelis und Häsings wohnen, zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Max Michaelis und einem Mitglied der Gemeinde gekommen sein. Zwei Vorstandsprotokolle von 1938 beschäftigen sich mit dieser Auseinandersetzung, leider so vage, dass man nur vermuten kann, was den Anstoß zum Streit gab:
„Bedenkliches Verhalten von Mitgliedern: Br. Karl Bollmann ist der Vorladung gefolgt. Seine Darlegungen gipfelt in der Anschuldigung gegen den Vorstand und seinen Vorsitzenden7, dass er wegen der Auseinandersetzung mit Br. Michaelis bis zum 1.10.1936 beurlaubt wurde, ohne nach Ablauf dieser Frist wieder zum Predigtdienst und zur Mitarbeit als Stationsleiter und Vorstandsmitglied herangezogen zu werden. Die mehrseitigen Versuche, ihn zu bewegen, gleichsam einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und Versöhnlichkeit zu beweisen, scheitern an seiner selbstgerechten und starrsinnigen Art, so dass er mit der Aufforderung entlassen werden musste, sich in Ruhe zu besinnen. Vor weiteren Stellungnahmen sollte die unsicheren Erinnerungen an die damaligen Vorgänge und Beschlüsse durch Einsicht der bereits abgelegten Protokolle gefestigt werden.“
In der nächsten Sitzung setzte der Disput um Max Michaelis sich jedoch fort. Im Protokoll wird berichtet:
„Dem ungeladen erschienenen Br. Karl Bollmann werden, um ihn von seiner falschen Einstellung zu Br. Janssen und dem Vorstand zu überzeugen, die seine Angelegenheit betreffenden Stellen aus den früheren Protokollen vorgelesen. Daraufhin reicht er mit der ironischen Bemerkung, nunmehr über den Vorstand im Bilde zu sein, Br. Janssen die Hand zur Versöhnung, lässt aber trotz eindringlichen Zuredens in seinen weiteren, selbstgerechten, starrsinnigen und verletzenden Äußerungen erkennen, dass er trotz der Bemerkung, auch nichts mehr gegen den Vorstand sagen zu wollen, diesem weiterhin grollt, weil ihm der Predigtdienst und die Stationsleitung entzogen blieben. Der nach seinem Fortgang gestellte Antrag auf Ausschluss wird bis Ende Januar zurückgestellt. Dagegen werden die Br. Vahldiek, Boueke und Sareyka9 beauftragt, ihm zu sagen, dass er eventuell mit seinem Ausschluss rechnen müsse, wenn er nicht die Versammlungen wieder besuche und nicht gegenüber dem Vorstand volle Versöhnlichkeit und Nachgiebigkeit beweise.“
Leider existieren die Protokolle von 1936 nicht mehr. Sie sind vermutlich im Bombenvolltreffer, den die Immanuelskirche Anfang November 1944 erhielt, verbrannt. Klar ist jedoch, dass eine erhebliche Auseinandersetzung zwischen Vorstand und Station, zwischen Mitgliedern des Gemeindevorstandes selbst, getobt haben muss. Im Mittelpunkt steht dabei Max Michaelis, dessen bloße Anwesenheit offensichtlich zu den schweren Differenzen geführt hat.
Mehrmals wird Max Michaelis verhaftet. Ab 1943 werden auch andere Juden aus „privilegierten Mischehen“ immer häufiger verhaftet und in KZs oder Vernichtungslager verbracht. Max Michaelis kommt erst in das Sammellager Oestrich, dann auf Grund eines Haftbefehls der Staatspolizei am 27.09.1944 in die Steinwache in Dortmund verbracht. Die Steinwache liegt direkt neben dem Dortmunder Hauptbahnhof und dient der Gestapo als zentrales Gefängnis für das Ruhrgebiet. Die Steinwache galt im Sprachgebrauch des Ruhrgebiets als „Hölle Westdeutschlands“. Im Keller der Steinwache wird gefoltert, darüber liegen in mehreren Geschossen die Häftlingszellen. Dort werden Juden aus Mischehen gesammelt, um sie entweder in die Vernichtungslager des Ostens, oder in andere KZ zu verbringen. Max Michaelis bleibt bis zum 16.11.1944 in der Steinwache. Dann wird er „entlassen“ und in das Polizeigefängnis Herne überführt.
Die Recherche der Töchter zum Verbleib des Vaters ergeben 2008, dass der Vater aus dem KZ Neuengamme (bei Hamburg) in das KZ Buchenwald verlegt worden ist. Ab dem 2. Dezember 1944 ist Max Michaelis als „politischer Jude“ Häftling im KZ Buchenwald. Seine Häftlingsnummer lautet: 38585. Vor ihm hat der Franzose Romilly sur Andelle diese Nummer getragen. Wenn sie frei ist, bedeutet das vermutlich den Tod des politischen Häftlings aus Frankreich. Max Michaelis ist Häftling im Block 43. Aus dem KZ Buchenwald kann er noch einen Brief an seine Familie schreiben. Über seinen persönlichen Zeilen befindet sich ein Auszug aus der Lagerordnung, der mit folgenden Zeilen beginnt:
„Der Tag der Entlassung kann jetzt noch nicht angegeben werden. Besuche im Lager sind verboten. Anfragen sind zwecklos.“
Michaelis schreibt in seinem Brief an die Familie:
„Liebe Frau und Kinder, hoffentlich seid ihr alle noch gesund wie Gleiches kann ich auch von mir mitteilen. Schickt mir meinen Brotbeutel, Näh- und Stopfzeug, Fußlappen. Lebensmittel darfst du schicken. Kochgelegenheit ist hier. Es wäre gut, wenn Du alles in einen Koffer von ½ Meter mitschicken würdest. Den Schlüssel in den Koffer legen. Liebe Mutti, schreib bald wieder, was machen die Kinder? Ich gratuliere Ursula zum Geburtstag…So seid alle herzlich gegrüßt von Eurem Papa…meine genaue Anschrift: Schutzhäftling Max Israel Michaelis Nr.38585 Block 19 Weimar Buchenwald.“
Am 8. Januar wird ein Transport in das Außenlager Flößberg zusammengestellt. Dort betreibt die Hugo-Schneider-AG Leipzig (HASAG) ein Außenlager. Die HASAG war ein florierendes Rüstungsunternehmen, welches mit Hilfe vieler Zwangsarbeiter in Sachsen, aber auch im besetzten Polen und Mähren arbeitete. Auf der Liste der Männer, die in das Außenlager verlegt worden sind, steht auch der Name von Max Michaelis. Damit verliert sich seine Spur. Im Archivauszug des KZ Buchenwald wird zwar noch ein Todesmarsch der Häftlinge des Außenlagers angedeutet, es wird aber nicht klar geäußert, dass Max Michaelis die unbeschreiblichen Zustände des Lagerlebens so weit ertrug, um dann noch auf den Marsch zu gehen:
„Zwischen 12 und 17.April 1945 mussten die Häftlinge zu Fuß Richtung Theresienstadt / Mauthausen marschieren, da das Außenlager an diesem Tage evakuiert wurde. Weitere Informationen stehen uns leider nicht zur Verfügung“.
Meta Lauterjung als älteste Tochter, wird 1938 in der Hermannshöhe durch Prediger Eltje Janssen, im Beisein ihres Vaters, getauft. Aber auch ihre Schwester Magdalene, wird im Gemeinderegister als Mitglied geführt. Bis zum Juni 1944 gibt es immer wieder Hinweise auf die Familie Michaelis. Entweder im jährlich erscheinenden Gemeindeverzeichnis, oder in Vorstandsprotokollen. Die Mitgliedschaft der Kinder Meta und Magdalene endet durch Umzug. Am 30.1.1942 wird Meta Michaelis – die Mutter der Familie – wieder im Verzeichnis der Hermannshöhe geführt. Sie ist von Schalksmühle zurück nach Bochum gekommen und Mitglied in der Zweiggemeinde Bärendorf16. Die letzte Eintragung zu Max Michaelis stammt aus einem Vorstandsprotokoll vom 4. Juni 1944. Lapidar heißt es dort:
„4.Geschwister, die um ihre Streichung gebeten haben: Br. Max Michaelis, Bärendorf“.
Zu diesem Zeitpunkt saß Max Michaelis bereits in der berüchtigten Steinwache in Dortmund oder im KZ Neuengamme ein. Warum wurde er dann „auf eigenen Wunsch“ aus der Gemeinde entlassen? Seine Töchter bezeugen glaubhaft, dass er selber einen solchen Schritt niemals unternommen hätte, da er die Gemeinde über alles liebte. Welcher Hintergrund ist anzunehmen? Hat seine Entlassung aus der Gemeinde, oder sogar seine Verhaftung und Verbringung nach Dortmund etwas mit Oskar Vetter zu tun? Oskar Vetter wird von zwei unterschiedlichen Seiten19 als verantwortlicher Täter beschrieben, der maßgeblich an der Verhaftung von Max Michaelis mitgewirkt habe. Nachweisen lässt sich diese Annahme anhand unabhängiger Quellen, zurzeit nicht. Aber immerhin saß Oskar Vetter für die Zweig-Gemeinde Bochum Werne ausgerechnet ab 1933 in Gemeindevorstand der Immanuelskirche. Kann es sein dass er ein Mitglied aus seiner Gemeinde verraten hat? Oder ist er un-schuldig? Konnte er am Ende seine Hände in Unschuld waschen? Aufhorchen lässt in der Erzählung der Kinder ein Anruf, den ihre Mutter erhalten hat. Wenn sie ihren Mann noch mal sehen möchte (in der Steinwache, Dortmund), dann solle sie sich jetzt auf den Weg machen, später wird es keine Gelegenheit mehr für ein Treffen geben. Da muss ein Insider telefoniert haben, der viel mehr wusste, als er sagte!
Meta Lauterjung versuchte nach dem Krieg eine Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte. Sie besucht Bochum und will Kontakt zu den Verantwortlichen der Gemeinde aufzubauen – wird aber abgewiesen.
Dennoch erhält die Familie Michaelis Hilfe auch durch Bochumer Christen (Baptisten). Familie Häsing, besonders die Mutter Ida Häsing, aus der Gemeinde in Bärendorf (Heute Bochum West) unterstützt und hilft. Teilweise wohnt Familie Michaelis mit ihren Kindern in der Wohnung der Häsings. Der Familie gelingt es später, nach Schalksmühle (Sauerland) umzuziehen. Während es Mutter und Kindern gelingt, den Krieg zu überleben, stirbt Max Michaelis vermutlich im Außenlager Flößberg, spätestens aber bei der Auflösung des Lagers im April 1945.
In der Schoah kommen insgesamt 20 Familienmitglieder der väterlichen Seite der Familie Michaelis ums Leben.
Beschämend ist aus heutiger Sicht besonders, dass die Familiengeschichte und die Tragödie der Familie Michaelis jahrzehntelang in der Gemeinde verschwiegen worden ist. In wie weit Verantwortliche der Gemeinde Schuld auf sich geladen haben, lässt sich im Einzelnen bisher nicht klar nachweisen, nur vermuten. Aber eine moralische Verantwortung ist nach dem Krieg abgelehnt worden, in dem z.B. in der Festschrift der Zweiggemeinde Wattenscheid zum 25. Jährigen Jubiläum jeder Hinweis auf den Gründer der Gemeinde, Max Michaelis, fehlt und der Tochter Meta Lauterjung ein Gespräch verweigert worden ist. Die Töchter von Max und Meta Michaelis erzählen dann auch von ihrem Leben, dass sie sich regelrecht stigmatisiert glaubten. Überall setzte hinter ihrem Rücken Tuschelei ein. Sie waren gekennzeichnet und gebrandmarkt.
Ronald Hentschel
Pastor der Immanuelskirche Bochum, Stand 08.10.2009